Weltwoche 1/98, 1.1.1998

Im neuen Jahrtausend pulsieren die Städte 24 Stunden am Tag

Puzzle 2020

Von Matthias Horx

Auch im Jahre 2010 wird der Mensch essen, aufstehen, schlafen gehen und vor dem Fernseher sitzen. Trotzdem werden einige Trends unseren Lebensstil dauerhaft verändern.
Die Städte leben im 21. Jahrhundert rund um die Uhr, der Planet richtet sich auf den 24-Stunden-Rhythmus ein. Schon heute gehört in den echten Metropolen der Welt Shopping am Sonntag zum normalen Wochenablauf. Im Zeichen der globalen Wissensgesellschaft entreguliert sich die Arbeitszeit endgültig - asynchrones Arbeiten prägt unsere Kultur. So etwas wie Rush-hour gehört bald der Vergangenheit an, und zu jeder Tages- und Nachtzeit kann man arbeiten oder sich vergnügen.
Die Arbeitswelt verändert sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts rapide. Die Zeiten der «lebenslangen Vollbeschäftigung im gleichen Beruf» gehören der Vergangenheit an. Im Jahre 2000 schon werden in den westlichen Ländern weniger als 50 Prozent der Arbeitenden in unbegrenzten Voll-Arbeitsplätzen beschäftigt sein, bis 2010 wird diese Zahl auf 35 Prozent gefallen sein. Aber nicht die Arbeit geht der Industriegesellschaft aus - sie wird nur nicht mehr in «Plätzen» organisiert, sondern wird zunehmend projekthaft, temporär, gewissermassen «flüssig».
Selbständigkeit in den verschiedensten Formen prägt im 21. Jahrhundert die Berufswelt und die Biographien. «Puzzle-Lebensentwürfe» sind normal. Man heuert in einer Firma nur noch für eine bestimmte Lebensperiode an, man arbeitet für mehrere Arbeitgeber gleichzeitig, man entwickelt im Laufe seines Lebens ein «Arbeitsportfolio», eine ganz spezifische Qualifikation, mit der man im Internet seine Arbeitskraft anbietet. Lebensphasen mit extrem viel Arbeit und hohem Verdienst wechseln mit «nesting»-Phasen ab, in denen man sich bescheidet oder vom Ersparten lebt. «Nesting Culture» nennen die Soziologen des Jahres 2010 das. Die globalen Wissensfirmen umwerben die klügsten und kreativsten Mitarbeiter mit «Creative-nesting»-Angeboten - bezahlten «sabbaticals» für die Familiengründung.
Der Konsum verabschiedet sich vom Massenkonsum. Kostbar wird das Einmalige, Seltene, Authentische. Eine neue Kosumverweigerung breitet sich aus: Vereinfachung des Lebens, aber auf höchstem Genussniveau (lieber intensiver geniessen, aber weniger kaufen). Purismus und Minimalismus. «Basic»-Produkte beherrschen den Luxusmarkt.
Der neue Luxus im 21. Jahrhundert heisst Zeit, Unerreichbarkeit, Aufmerksamkeit. Wer «es geschafft hat», hat kein Handy mehr. Musse wird demonstrativ als neues Statussymbol zur Schau gestellt.
Bildung bekommt einen anderen Wert und eine andere Struktur. «Lebenslanges Lernen» ist selbstverständlich. Mit 40 gehen wir wieder ein Jahr an die Universität, um uns nachzubilden. Die neuen Lernziele orientieren sich nicht mehr am «Fachwissen», sondern an emotionalen Fähigkeiten wie Teamwork, Selbst-Management und «Informationsintelligenz».
Die Familie erlebt als kulturelle Institution ein Comeback. Sie gibt in den individuelleren Biographien den verlässlichen Halt ab. Man nimmt die Ehe wieder als «heiliges Projekt» ernst - und schult sich in Techniken der Partner- und Elternschaft. In den 20er Jahren des kommenden Jahrhunderts gibt es einen «Familien-Führerschein» mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden, den jeder verantwortliche Partnersuchende bei sich trägt. «Erziehungskompetenz» ist ein kostbares kulturelles Gut mit erheblichem Prestige geworden. Die Apokalypse-Mode verblasst. Der grosse Schrecken, der um die Jahrtausendwende in die Glieder und Seelen der Menschen fuhr, weicht langsam einem evolutionären Optimismus.
Sogar im deutschsprachigen Raum wird die Jammer- und Pessimismus-Kultur allmählich zurückgedrängt. Immer deutlicher wird: Der Planet wird nicht untergehen. Der «peak» der Weltbevölkerung wird um das Jahr 2030 mit 8,5 bis 9 Milliarden Menschen erwartet. Neue Technologien ermöglichen den schmerzlosen Abschied von den fossilen Brenn- und Rohstoffen.
Die Klimakatastrophe entpuppt sich als das, was sie ist: eine Jahrtausendwende-Untergangsphantasie, die mit der Realität wenig zu tun hat. «Smart Technologies» lösen die letzten grossen Energie- und Umweltprobleme, Solartechnik setzt sich weltweit durch. Müllkippen werden zu Rohstoffdeponien, aus denen Tranformations-Technologien alle erdenklichen Stoffe wieder «herausdestillieren». Und in China kommt 2010 das erste 1-Liter-Brennstoffzellenauto für die Massen auf den Markt, nachgebaut anhand einer Blaupause der Mercedes Global Gmbh.


Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher, 42, lebt in Wien, Hamburg und London. Soeben erschien im Econ-Verlag «Das Zukunfts-Manifest - Wie wir uns auf das 21. Jahrhundert vorbereiten können».
 
 



 
 
Brückenbauer Nr. 10, 7.03.2000 

« Männer sind dumm und faul - Frauen sind gebildeter»
Trendforscher Matthias Horx über Liebe, Lust und den Geschlechterkrampf zwischen Mann und Frau.
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
«Brückenbauer»: Matthias Horx, Sie zitieren in Ihrem Buch den «Guardian», wonach das Hausmännertum die legalisierte, politisch korrekte Form der Kastration sei. Dabei könnte das Hausmannsleben doch toll sein!

Matthias Horx: Sicher kann es das. Das ist nur ein Zitat, das die Auseinandersetzung Hausarbeit gegen Erwerbsarbeit überspitzt darstellt. Diese Debatte läuft in den Industrienationen schon seit 30 Jahren, aber jetzt kommt sie in die entscheidenden Runden. Die Emanzipation ist in den Herzen der Mehrheit angekommen und nicht mehr nur das Thema einer intellektuellen Minderheit. 

Schon jahrzehntelang wird um das Recht auf ausserhäusliche Erwerbsarbeit gestritten. Warum eigentlich? Ist es so toll, sich täglich zehn, zwölf Stunden in den Dienst einer Unternehmung zu stellen?

Jetzt haben Sie nur die negative Seite der Erwerbsarbeit genannt. Die Sphäre der Arbeit verändert sich in der Wissensökonomie. Was wir erkennen können, ist eine sinnstiftende Aufwertung der Arbeitswelt von einer wiederholenden Tätigkeit zu einer kreativen. 

Zudem wird der Arbeitsplatz für viele Menschen zu einem sozialen Ort, an dem sie sich mit anderen treffen und Dinge bewegen können, während das Zuhause ein komplexes, anstrengendes Feld ist, in dem sie Kontrollverlust erleben. In modernen Familien fliegen ihnen die Dinge um die Ohren, gerade Kinder pflegen oft unkontrollierbare Verhaltensmuster. Haushalt ist etwas Schwieriges, das konnten Männer noch nie. Sie hatten gesicherte Jobs, die sie brauchten, um ihre Ernährerrolle wahrzunehmen. 

Und wieso haben Frauen immer mehr Erfolg in der Erwerbsarbeit?

Weil sie heute besser gebildet sind als Männer. Vor 50 Jahren besassen die Frauen nur einen Zehntel des Bildungskapitals. Unsere Grossmütter hatten keine andere Wahl, als Hausarbeit zu leisten. Allenfalls konnten sie Fabrikarbeiterinnen werden. Heute hingegen machen in Deutschland 58 Prozent der Mädchen das Abitur - und ihre Noten sind höher als die der Jungs. 

Sind Männer also zu dumm, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein?

Zugespitzt gesagt ja. Männer verhalten sich fauler, langsamer und unsozialer als Frauen. Sie können gut über Fussball reden. Aber in der modernen Arbeitswelt, in der es auf Teamwork, soziale Formen von Vermittlung, Verbalität und Kompromisse ankommt, haben sie Schwierigkeiten. 

Viele Männer haben einen Lebensentwurf, der bewusst oder unbewusst davon ausgeht, dass sie ihre wirkliche Arbeitsleistung dann angehen, wenn sie eine Familie gegründet haben. Dann malochen sie wie bekloppt, weil zu Hause das Familienleben - Stichwort Säuglinge - schwierig geworden ist. In Deutschland und der Schweiz kann man das nachweisen, in Skandinavien oder Frankreich ist es anders, weil es dort eine gleichere Verteilung der Rollen zwischen Männern und Frauen gibt. 

Die Frauen jedoch starten ihre Karrierehöchstleistung früher. Sie wollen es bis 33 schaffen, zumindest wenn sie Kinder haben wollen. 

Sie behaupten, Frauen würden bereits in jungen Jahren alles für den Job geben. Wieso suchen dann so viele Frauen Teilzeitjobs? Ein Widerspruch?

Teilzeitjobs sind dann angesagt, wenn sie eine Familie gründen. Es entspricht einem dualistischen Lebensentwurf, der nicht nur den Faktor Job, sondern auch den Faktor Familie miteinbezieht. 

Mit ihren Herzinfarkt fördernden Verhaltensweisen verfolgen viel Männer das Ziel, sich unentbehrlich zu machen und alles an sich zu reissen. Das führt dazu, dass man um Mitternacht noch arbeitet. Diese gesundheitsschädlichen Verhaltensmuster kommen von den Männern - wobei die Frauen da genauso aufholen wie beim Rauchen und bei den Herzinfarkten. Doch die Gesellschaft kann sich auch anders organisieren. In Skandinavien sieht man auf den Strassen jede Menge Kinderwagen schiebender Männer. In Schweden ist - und das ist einmalig auf der Welt - die Erwerbsarbeit fifty-fifty zwischen Männern und Frauen geteilt. In der Schweiz hingegen haben Frauen wenig Anteil an der Erwerbsarbeit. 

Vermutlich ist der Mann von den gesellschaftlichen Wandlungen überfordert. Da wurde jahrelang von ihm verlangt, dass er gefühlvoller werden soll. Jetzt heissts wieder, Frauen hassen weiche Softies. Ja was denn nun?

Der Mann sollte sich einfach erwachsen verhalten. Das heisst, er muss fähig sein, Widersprüche und Schwierigkeiten des Lebens zu integrieren und zu einem gangbaren Kompromiss zu bündeln. 

In den Subkulturen der studentischen Ära reagierten viele Männer auf die aggressiv gewordenen Frauen, indem sie begannen, passive Opferrollen zu spielen. Sie wurden weinerlich, entwickelten Kuschelsehnsüchte und wollten von Frauen bemuttert werden. Ein solches Regressionsverhalten honorieren Frauen nicht. Die Frage ist, ob man den Kinderwagen schieben und doch ein ganzer Kerl bleiben kann. Das ist das Abenteuer, in das unsere Kultur sich jetzt begibt. 

Dieser Herausforderung müssen sich die Frauen wohl auch stellen.

Sicher. Die Frauen müssen auch dazulernen. Sie sind ebenso gespalten: Im Alltag wünschen sie sich einen Hausmann, der sie unterstützt, aber im erotischen Leben doch schon eher den Tarzan. Diese Ambivalenz können wir auch über Rollenspiele ausdrücken und wechselnde Rollen ausfüllen. Rollenvielfalt wird ohnehin immer wichtiger: dass man nicht von früh bis spät auf derselben Schiene fährt. 

Anscheinend sind die Ansprüche an Männer massiv gestiegen…

Frauen optimieren heute, so wie es die Männer schon immer gemacht haben. Die meisten Männer suchten sich - auch wenn das klischeehaft tönt - in einer Frau vereint eine Sekretärin, eine heisse Liebhaberin und eine gute Mutter. Frauen hatten diese Möglichkeit der Wahl nicht. Heute fordern sie sie ein. Sie überfordern die Männer, genauso wie die Männer sie überfordert haben. Und das wiederum führt dazu, dass die Beziehungen schwieriger geworden sind und brüchiger werden. 

Der Mann suchte die Zwangsmonogamie doch gar nie!

Jetzt stellen Sie das bürgerliche Ehemodell in Frage, das die Männer ja immer wieder fröhlich eingegangen sind. Sie haben Ja gesagt und damit bekundet, dass sie ihr Primatenverhalten und die Jagd auf der freien Wildbahn ablegen wollen. Hier geht es um einen Kontrakt zwischen Erwachsenen. Man kann auch vereinbaren, dass man nur sadomasochistische sexuelle Freuden miteinander haben will. Aber dann sollte man wohl besser keine Kinder in die Welt setzen. 

Diese Art von Kontrakten ist ein Auslaufmodell. In den Sechzigerjahren heirateten 95 Prozent, heute sind es nur noch 80.

Eine Gesellschaft ohne Kontrakte ist nicht denkbar. Jede Form von menschlicher Gemeinschaft beruht auf geschriebenen oder ungeschriebenen Kontrakten, nicht nur die Ehe. Aber man sollte sie verfeinern und der gesellschaftlichen Wirklichkeit anpassen. Paare müssen lernen, ihre Bedingungen auszuhandeln, dabei brauchen sie emotionale Intelligenz und Beziehungsehrlichkeit. Das ist besser, als sich gegenseitig auszutricksen. 

Wie wird ein solcher zukünftiger Beziehungspakt aussehen? 

Es wird viele Arten von Ehen geben. Die progenetische Familie, eine Gemeinschaft zur Reproduktion der DNS, kann so aussehen, dass die Frau festhält, sie wolle ein Kind, für das sie 70 Prozent der Verantwortung übernimmt, der Mann aber nur 30 Prozent. Die Ungleichheit wird ehrlich finanziell ausgeglichen, notariell geregelt. Das wäre ehrlicher als das, was heute oft läuft. 

Im gentechnologischen Zeitalter werden Menschen mehr über Reproduktion nachdenken als heute, wo wir noch unter dem Verdikt der romantischen Liebe leben. Heute ist Partnerwahl eine DNS-Auswahl. Aber in Zukunft werden wir unser sexuelles Verhalten vom Fortpflanzungsverhalten abkoppeln. Das könnte dazu führen, dass eine Frau sagt: «Ich heirate dich, aber ich möchte gerne die DNS eines anderen Mannes kaufen.» Es stellt sich die Frage, wie sich ein bürgerlicher Ehevertrag unter diesen Prämissen entwickelt… Es gibt schon hunderttausende von Leihmüttern und künstlichen Inseminationsprozessen. Diese neuen familiären Varianten bedingen neue Eheformen. 

DNS-Einkauf! Romantisch tönt das nicht… Sind Sie unromantisch?

Das ist nicht die Frage. Es geht darum, wie die menschliche Kultur sich entwickelt, welche Kontrakte die Zukunft bringt. Der bürgerliche Ehekontrakt war ja nur durch Romantik zu ertragen. Sie ist die geistige Überhöhung einer schnöden Realität. Wenn wir in systemischer Weise auf die Kulturentwicklung schauen, sollten wir uns hüten, sie mit einer rosa Brille zu betrachten. 

Sie schreiben, dass Frauen die Patriarchen imitieren. Stichworte sind Seitensprung, Machotum, Mann als Sexobjekt. Ist das der Männertraum oder ein Alptraum?

Beides. Es gibt Männer, die sich gern vernaschen lassen würden, aber es gibt auch viele, die von einem solchen Verhalten beunruhigt werden. Sicher aber ist, dass es ein grosses Potenzial an weiblichem Chauvinismus gibt, der sich via Girlie-Kultur in der Gesellschaft ausbreitet. Selbst in konservativen Frauenzeitschriften spürt man diesen gedrehten Wind. Die Ratschläge lauten: «Befriedige dich selbst, hol dir die Männer, die du willst, lebe wild.» Viele junge Frauen setzen diese Litanei in die Realität um. 

Es muss den Männern ja gewaltig Angst machen, wenn sie nicht mehr die Eroberer sind, sondern vielleicht Ladenhüter werden.

Die Frage ist, ob es das nicht immer schon gab. Aber was eindeutig gesagt werden kann, ist, dass es in den Industrienationen immer mehr unfreiwillige männliche Singles gibt. 

Anfang dieses Jahrhunderts lag in Europa die Heiratsquote bei 40 Prozent. Heiraten war ein Privileg der Wohlhabenden. Viele ungebildete Mädchen vom Lande konnten nie heiraten. Heute geht es immer mehr Männern so. Das industrialisierte Zeitalter bringt es mit sich, dass viele von ihnen unterqualifiziert sind oder in die Arbeitslosigkeit abgleiten, wodurch sie an Begehrbarkeit verlieren. Die Quote der relativ ungebildeten Männer steht heute bei 20 Prozent. Viele von ihnen suchen vergeblich eine Partnerin. Sie weichen nach Bangkok oder Polen aus, wo sie nach einer Frau suchen, die ihren Rollenvorstellungen entspricht. Das geht jedoch oft schief. 

Der Anteil des Erwerbseinkommens am Gesamteinkommen geht zurück, immer mehr wird geerbt oder kommt dank Aktiengewinnen zustande. Gleichzeitig drängen die Frauen in den Arbeitsmarkt. Das kann ja nicht aufgehen!

Doch. Die Nachfrage am Arbeitsmarkt ist prinzipiell unendlich. Es gibt ein permanentes Wachstum an Humandienstleistung, sei dies im Servicebereich oder im Bereich der neuen Informationsdienstleistungen. Die Nachfrage ist also nicht das Problem. Die Frage ist, ob wir ein neues Rollen- und Qualifikationsbild der Männer und der Frauen schaffen, um mit diesen gewandelten Bedingungen umgehen zu können. 

Im Grunde ist es allein eine Frage der Bildung. Wobei mit Bildung nicht eingetrichtertes Wissen gemeint ist. Wichtiger ist die Wandlungsfähigkeit. Es geht nicht mehr um Disziplin und Durchhaltevermögen. Diese Tugenden bewiesen die Männer einst: Sie beschlossen mit neun, Lokführer zu werden, liessen sich später dazu ausbilden und blieben es. Die neuen Arbeitsmärkte fordern anderes: soziale Sensibilität, Selbstbeobachtungsfähigkeit, Selbstkritik. Da sind Frauen auf Grund ihrer Sozialisation weiter. Schauen Sie sich nur ihr Ernährungs- und Gesundheitsverhalten an. Frauen beobachten ihren Körper besser als Männer. Deshalb werden sie auch älter. Männer könnten sich da einiges abgucken. 

Im übrigen bilden Frauen bessere Netzwerke als Männer. Das müssen sie auch, um voranzukommen. Und wo Kommunikationstalent gefragt ist, zum Beispiel in der Werbung oder im Marketing, sind Frauen gleichauf mit den Männern. Nicht weil sie bessere Menschen wären, sondern weil sies leichter schaffen, Seilschaften zu bilden und ihr Wissen miteinander zu teilen. 

Müssen wir mit einem Aufstand der frustrierten Männer rechnen?

Klassisches Machoverhalten erlebt bereits eine Renaissance. Zum Beispiel legen Männersportarten wie American Football zu, aber auch Männerzeitschriften wachsen. In England gibt es neue Männerblätter mit viel sagenden Namen wie «Loaded» (geladen), die einen fröhlichen Chauvinismus feiern. Übrigens kommentieren viele neue starke Frauen diesen Neo-Chauvinismus durchaus ironisch. Sie haben nichts dagegen. 

Sie reden in ihrem Buch von der Neuen Hausfrau, die sich freiwillig fürs traute Heim entscheidet. Nur alter Wein in neuen Schläuchen? 

Im Gegenteil: Neuer Wein in alten Schläuchen. Die Schläuche haben wir schon gesehen, aber der Wein ist extraordinär. Das Trendbüro Hamburg hat in einer Studie über Selbst- und Idealbilder von Frauen gezeigt, dass viele der Frauen dem neuen Typus der Haushaltmanagerin positiv gegenüberstehen. 

Das hat damit zu tun, dass die Arbeitswelt, so wie sie jetzt strukturiert ist, viele Nachteile, wie zum Beispiel eine geringe Zeitsouveränität, bietet. Haushalt kann Spass machen und kreativ sein, vor allem wenn man genügend Kohle hat, um sich Dienstleistungen wie Putzen oder Abwaschen zu kaufen. Haushalt bedeutet dann vor allem Gestaltung, Zelebrieren, sozial Vernetzen, kurz gesagt, höhere Komplexität erzeugen. Und das kann lustvoll sein: Die Wohnung so zu renovieren, dass alle Freunde staunen, oder ein Fest zu organisieren, das für Furore sorgt. 

Eine solche Art des Heimmanagements ist nur im Wohlstand möglich. Sie kann zu einem neuen aktiven Cocooning, zu einer Tendenz nach Hause, führen. Es wird mehr Working Couples geben, die zu Hause leben und arbeiten. 

Interview Beat A. Stephan
Trendguru
Trendforscher Matthias Horx, 45, ist Mitbegründer des Trendbüros Hamburg. Heute betreibt er ein Zukunftsinstitut mit Hauptsitz in Frankfurt. Der studierte Soziologe arbeitete als Journalist für die «Zeit» oder «Tempo». Er lebt heute in Wien mit seiner arbeitstätigen Frau und zwei Kindern. 

In seinem Buch «Die acht Sphären der Zukunft» zeigt er unter anderem, wie die Männer ihre Ernährerrolle verlieren und welchen Einfluss Reproduktionstechniken auf Partnerschaftsmodelle haben. 

 


 



 
Brückenbauer Nr. 10, 7.03.2000 

Evolution ist ein fröhlicher Prozess

Matthias Horx über Methoden der Trendforschung, über die Zähigkeit der Menschheit und seine Überzeugung, in einer guten Welt zu leben. 

«Brückenbauer»: Wie kommen Sie zu Ihren Erkenntnissen? Sind Sie eine Art Wahrsager?

Matthias Horx: Wenn man «wahrsagen» wörtlich nimmt und mit Bindestrich schreibt, dann wird es auch profan. Meine Aufgabe besteht darin, Erkenntnisse über die Wandlung von Gesellschaften, Menschenbildern oder ökonomischen Strukturen zu bündeln und ihnen einen Namen zu geben. Dass ich Erkenntnisse benenne, wird oft als Gurufunktion bezeichnet. Vokabeln wie «Cocooning», «New Work» oder «Softindividualismus» benennen Wandlungsprozesse. Meine Aufgabe ist es, Menschen auf die Zukunft neugierig zu machen und ihnen die Angst davor zu nehmen. 

Das Buch «Die acht Sphären der Zukunft» ist der Versuch, eine ganzheitliche Futurologie zu entwerfen und die Fehler der Sechzigerjahre zu vermeiden, in denen Zukunftsforscher nur technische Sensationen vom Atomauto bis zum Haushaltroboter prophezeiten und nicht bemerkt haben, wie sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau oder die Werte veränderten. 

Sie sagen, dass jeder Trend einen Gegentrend mit sich bringt. Trauen Sie sich selbst nicht?

Trends funktionieren dialektisch. Je bedeutender Gegenwelten wie der Cyberspace werden, desto mehr gewinnt ein authentischer Gegenstand oder real erfahrene Zeit an Wert. Das ist kein Paradoxon, sondern eine logische Entwicklung: Seltenes erfährt eine Aufwertung. 

Sie betonen, dass vergangene Jahrzehnte von Paradigmen wie Arbeitsmoral oder Rebellion geprägt wurden. Und jetzt? Was ist das Paradigma der Zukunft?

In den Sechzigerjahren erlebten wir den Höhepunkt der industriellen Revolution mit hohen Beschäftigungsraten und enormen Gleichheitsraten in den Lebensformen. 80 Prozent waren verheiratet, die Normierung und die kulturelle Homogenität waren hoch. 1968 setzte die Individualisierungsrebellion ein. Sie erlaubte dem Einzelnen mehr Zugriff auf sein Leben. Dies fällt zusammen mit einer Zeit, in der sich der Charakter unserer Ökonomie wandelt: von einer auf Produktion von Gegenständen und auf Massenkonsum ausgerichteten Gesellschaft auf eine vom Rohstoff Wissen geprägte Wirtschaft. 

Wenn nun aber zum Beispiel im Bereich der Ökonomie ein neues Paradigma erscheint, müssen sich alle anderen Sphären angleichen, sonst kollabiert das System. Wir brauchen neue Denkformen und neue Formen der mentalen Entwicklung. Es ist kein Zufall, dass Motivationstrainer, die einem für viel Geld «Du kannst es, wenn du nur willst» entgegenschreien, heute Erfolg haben - in einer Gesellschaft, in der Selbstvertrauen und soziale Selbstkompetenz zentrale Produktionsmittel sind. 

Die neue Gesellschaft läuft auf den Beinen Globalisierung, Individualisierung und Wissen - und nicht mehr auf den Beinen Nationalismus, Industrie, Rohstoff, Gehorsam. Dieser Wechsel wird Opfer fordern. Er wird Europa so umpflügen wie der Wechsel von einer agrarischen in eine industrialisierte Gesellschaft vor 200 Jahren. 

In Ihrer Zukunftsbeschreibung fällt auf, dass Sie von Respiritualisierung, von der Renaissance des Gemeinwohls oder der Neuen Askese sprechen. Gehen wir einem Retro-Jahrzehnt entgegen?

Es gibt nichts wirklich Neues. Wir wären gar nicht in der Lage, wirklich Neues zu erkennen. Kulturgeschichte ist immer die Redefinition des schon Gewesenen. Ein Beispiel: heutige politische Theorien greifen immer auf zwei alte Modelle zurück, die Pharaonen und das Alte Griechenland. Diese Grunderfindungen werden weitergeführt. Auch Religion wird nie aussterben, es wird aber neue Varianten von Spiritualität geben. Solange wir endlich und nicht allmächtig sind, wird es auch den Glauben geben. 

Sehen Sie gefährliche Trends auf uns zukommen?

Die Zukunft ist nicht verfügbar für das, was wir wollen oder nicht wollen. Wir sprechen hier über Evolutionsprozesse, die einen objektiven Gehalt haben. Ob die Kultur die entscheidenden Anpassungsprozesse nachvollziehen wird oder ob wir in eine Katastrophe schlittern, ist nicht voraussehbar. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass die Menschheit anpassungsfähig und zäh ist: Die ägyptische Kultur ist mehrmals in ihrer Geschichte von einer Bevölkerungszahl von zehn Millionen auf 500000 zurückgegangen - und wieder zurück. Stellen Sie sich das einmal für die Schweiz vor! 

Wir können zwar Negativtrends wie den Rückfall in den Nationalismus formulieren, aber im Prinzip ist Evolution ein fröhlicher Prozess. 

Sie sind ein Optimist…

Ich bin kein Optimist im romantischen Sinne. Ich weiss, dass es Katastrophen geben wird. Aber ich bin Konstruktivist. Es macht nur Sinn, die konstruktiven Möglichkeiten auszuloten, um dann auch für sie einzustehen. - Zehn Jahre meines Lebens war ich Pessimist. Später merkte ich, wie eitel diese Haltung ist. Verantwortlich mit Zukunft umzugehen heisst, Gefahren zu erkennen und das Mögliche dazu beizutragen, dass sie nicht eintreten. 

In unserem Teil der Welt ist alles immer besser geworden. Wir haben eine entwickelte, demokratische Wohlstandsgesellschaft, die uns viel mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gibt, als unsere Vorfahren sie je hatten. 

Interview bas
 
 
Megatrends
Was die Zukunft gemäss Matthias Horx bringt: 

Individualität: Nicht mehr Klassen und Grossorganisationen stehen im Zentrum, sondern das Individuum. 

Globalisierung: Nationalstaaten verblassen, Regionen spielen eine grosse Rolle. 

Gesundheit: Der Körper wird wichtig, gerade wegen des Vormarschs des Virtuellen. 

Social Skills: Die Fähigkeit, sich zu vernetzen, sich selbst zu erkennen und zu verändern, wird unabdingbar. 

Digitalität: Informationen werden absolut kompatibel: Bilder, Töne, Sprache können ineinander gefügt werden. Es entsteht ein Universalmedium, mit dem wir beliebig Wissensinhalte verschicken können. Das Internet ist davon nur eine Vorstufe. 

Hypertechnologie: Eine Technologie, die in der Lage sein wird, sich selbst schnell zu transformieren und zwischen verschiedenen Gebieten hin- und herzuspringen. Die Gentechnologie betrifft nicht nur einen Bereich, wie die Gesundheit, sondern verändert auch Produktionsprozesse. 

Mit Nanotechnik wird man auf molekularer Ebene produzieren, ein Auto beispielsweise direkt aus dem Computer morphen. Am Anfang des 23.Jahrhunderts wird ein Auto nicht am Fliessband entstehen, sondern direkt aus einem Block Materie gemorpht.