Auch im Jahre 2010 wird der Mensch essen, aufstehen, schlafen gehen
und vor dem Fernseher sitzen. Trotzdem werden einige Trends unseren Lebensstil
dauerhaft verändern.
Die Städte leben im 21. Jahrhundert rund um die Uhr, der Planet
richtet sich auf den 24-Stunden-Rhythmus ein. Schon heute gehört in
den echten Metropolen der Welt Shopping am Sonntag zum normalen Wochenablauf.
Im Zeichen der globalen Wissensgesellschaft entreguliert sich die Arbeitszeit
endgültig - asynchrones Arbeiten prägt unsere Kultur. So etwas
wie Rush-hour gehört bald der Vergangenheit an, und zu jeder Tages-
und Nachtzeit kann man arbeiten oder sich vergnügen.
Die Arbeitswelt verändert sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts
rapide. Die Zeiten der «lebenslangen Vollbeschäftigung im gleichen
Beruf» gehören der Vergangenheit an. Im Jahre 2000 schon werden
in den westlichen Ländern weniger als 50 Prozent der Arbeitenden in
unbegrenzten Voll-Arbeitsplätzen beschäftigt sein, bis 2010 wird
diese Zahl auf 35 Prozent gefallen sein. Aber nicht die Arbeit geht der
Industriegesellschaft aus - sie wird nur nicht mehr in «Plätzen»
organisiert, sondern wird zunehmend projekthaft, temporär, gewissermassen
«flüssig».
Selbständigkeit in den verschiedensten Formen prägt im 21.
Jahrhundert die Berufswelt und die Biographien. «Puzzle-Lebensentwürfe»
sind normal. Man heuert in einer Firma nur noch für eine bestimmte
Lebensperiode an, man arbeitet für mehrere Arbeitgeber gleichzeitig,
man entwickelt im Laufe seines Lebens ein «Arbeitsportfolio»,
eine ganz spezifische Qualifikation, mit der man im Internet seine Arbeitskraft
anbietet. Lebensphasen mit extrem viel Arbeit und hohem Verdienst wechseln
mit «nesting»-Phasen ab, in denen man sich bescheidet oder
vom Ersparten lebt. «Nesting Culture» nennen die Soziologen
des Jahres 2010 das. Die globalen Wissensfirmen umwerben die klügsten
und kreativsten Mitarbeiter mit «Creative-nesting»-Angeboten
- bezahlten «sabbaticals» für die Familiengründung.
Der Konsum verabschiedet sich vom Massenkonsum. Kostbar wird das Einmalige,
Seltene, Authentische. Eine neue Kosumverweigerung breitet sich aus: Vereinfachung
des Lebens, aber auf höchstem Genussniveau (lieber intensiver geniessen,
aber weniger kaufen). Purismus und Minimalismus. «Basic»-Produkte
beherrschen den Luxusmarkt.
Der neue Luxus im 21. Jahrhundert heisst Zeit, Unerreichbarkeit, Aufmerksamkeit.
Wer «es geschafft hat», hat kein Handy mehr. Musse wird demonstrativ
als neues Statussymbol zur Schau gestellt.
Bildung bekommt einen anderen Wert und eine andere Struktur. «Lebenslanges
Lernen» ist selbstverständlich. Mit 40 gehen wir wieder ein
Jahr an die Universität, um uns nachzubilden. Die neuen Lernziele
orientieren sich nicht mehr am «Fachwissen», sondern an emotionalen
Fähigkeiten wie Teamwork, Selbst-Management und «Informationsintelligenz».
Die Familie erlebt als kulturelle Institution ein Comeback. Sie gibt
in den individuelleren Biographien den verlässlichen Halt ab. Man
nimmt die Ehe wieder als «heiliges Projekt» ernst - und schult
sich in Techniken der Partner- und Elternschaft. In den 20er Jahren des
kommenden Jahrhunderts gibt es einen «Familien-Führerschein»
mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden, den jeder verantwortliche Partnersuchende
bei sich trägt. «Erziehungskompetenz» ist ein kostbares
kulturelles Gut mit erheblichem Prestige geworden. Die Apokalypse-Mode
verblasst. Der grosse Schrecken, der um die Jahrtausendwende in die Glieder
und Seelen der Menschen fuhr, weicht langsam einem evolutionären Optimismus.
Sogar im deutschsprachigen Raum wird die Jammer- und Pessimismus-Kultur
allmählich zurückgedrängt. Immer deutlicher wird: Der Planet
wird nicht untergehen. Der «peak» der Weltbevölkerung
wird um das Jahr 2030 mit 8,5 bis 9 Milliarden Menschen erwartet. Neue
Technologien ermöglichen den schmerzlosen Abschied von den fossilen
Brenn- und Rohstoffen.
Die Klimakatastrophe entpuppt sich als das, was sie ist: eine Jahrtausendwende-Untergangsphantasie,
die mit der Realität wenig zu tun hat. «Smart Technologies»
lösen die letzten grossen Energie- und Umweltprobleme, Solartechnik
setzt sich weltweit durch. Müllkippen werden zu Rohstoffdeponien,
aus denen Tranformations-Technologien alle erdenklichen Stoffe wieder «herausdestillieren».
Und in China kommt 2010 das erste 1-Liter-Brennstoffzellenauto für
die Massen auf den Markt, nachgebaut anhand einer Blaupause der Mercedes
Global Gmbh.
Matthias Horx, Trend- und Zukunftsforscher, 42, lebt in Wien,
Hamburg und London. Soeben erschien im Econ-Verlag «Das Zukunfts-Manifest
- Wie wir uns auf das 21. Jahrhundert vorbereiten können».
| Brückenbauer Nr. 10, 7.03.2000 | ||
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Evolution ist ein fröhlicher Prozess Matthias Horx über Methoden der Trendforschung, über die Zähigkeit der Menschheit und seine Überzeugung, in einer guten Welt zu leben. «Brückenbauer»: Wie kommen Sie zu Ihren Erkenntnissen? Sind Sie eine Art Wahrsager? Matthias Horx: Wenn man «wahrsagen» wörtlich nimmt und mit Bindestrich schreibt, dann wird es auch profan. Meine Aufgabe besteht darin, Erkenntnisse über die Wandlung von Gesellschaften, Menschenbildern oder ökonomischen Strukturen zu bündeln und ihnen einen Namen zu geben. Dass ich Erkenntnisse benenne, wird oft als Gurufunktion bezeichnet. Vokabeln wie «Cocooning», «New Work» oder «Softindividualismus» benennen Wandlungsprozesse. Meine Aufgabe ist es, Menschen auf die Zukunft neugierig zu machen und ihnen die Angst davor zu nehmen. Das Buch «Die acht Sphären der Zukunft» ist der Versuch, eine ganzheitliche Futurologie zu entwerfen und die Fehler der Sechzigerjahre zu vermeiden, in denen Zukunftsforscher nur technische Sensationen vom Atomauto bis zum Haushaltroboter prophezeiten und nicht bemerkt haben, wie sich das Verhältnis zwischen Mann und Frau oder die Werte veränderten. Sie sagen, dass jeder Trend einen Gegentrend mit sich bringt. Trauen Sie sich selbst nicht? Trends funktionieren dialektisch. Je bedeutender Gegenwelten wie der Cyberspace werden, desto mehr gewinnt ein authentischer Gegenstand oder real erfahrene Zeit an Wert. Das ist kein Paradoxon, sondern eine logische Entwicklung: Seltenes erfährt eine Aufwertung. Sie betonen, dass vergangene Jahrzehnte von Paradigmen wie Arbeitsmoral oder Rebellion geprägt wurden. Und jetzt? Was ist das Paradigma der Zukunft? In den Sechzigerjahren erlebten wir den Höhepunkt der industriellen Revolution mit hohen Beschäftigungsraten und enormen Gleichheitsraten in den Lebensformen. 80 Prozent waren verheiratet, die Normierung und die kulturelle Homogenität waren hoch. 1968 setzte die Individualisierungsrebellion ein. Sie erlaubte dem Einzelnen mehr Zugriff auf sein Leben. Dies fällt zusammen mit einer Zeit, in der sich der Charakter unserer Ökonomie wandelt: von einer auf Produktion von Gegenständen und auf Massenkonsum ausgerichteten Gesellschaft auf eine vom Rohstoff Wissen geprägte Wirtschaft. Wenn nun aber zum Beispiel im Bereich der Ökonomie ein neues Paradigma erscheint, müssen sich alle anderen Sphären angleichen, sonst kollabiert das System. Wir brauchen neue Denkformen und neue Formen der mentalen Entwicklung. Es ist kein Zufall, dass Motivationstrainer, die einem für viel Geld «Du kannst es, wenn du nur willst» entgegenschreien, heute Erfolg haben - in einer Gesellschaft, in der Selbstvertrauen und soziale Selbstkompetenz zentrale Produktionsmittel sind. Die neue Gesellschaft läuft auf den Beinen Globalisierung, Individualisierung und Wissen - und nicht mehr auf den Beinen Nationalismus, Industrie, Rohstoff, Gehorsam. Dieser Wechsel wird Opfer fordern. Er wird Europa so umpflügen wie der Wechsel von einer agrarischen in eine industrialisierte Gesellschaft vor 200 Jahren. In Ihrer Zukunftsbeschreibung fällt auf, dass Sie von Respiritualisierung, von der Renaissance des Gemeinwohls oder der Neuen Askese sprechen. Gehen wir einem Retro-Jahrzehnt entgegen? Es gibt nichts wirklich Neues. Wir wären gar nicht in der Lage, wirklich Neues zu erkennen. Kulturgeschichte ist immer die Redefinition des schon Gewesenen. Ein Beispiel: heutige politische Theorien greifen immer auf zwei alte Modelle zurück, die Pharaonen und das Alte Griechenland. Diese Grunderfindungen werden weitergeführt. Auch Religion wird nie aussterben, es wird aber neue Varianten von Spiritualität geben. Solange wir endlich und nicht allmächtig sind, wird es auch den Glauben geben. Sehen Sie gefährliche Trends auf uns zukommen? Die Zukunft ist nicht verfügbar für das, was wir wollen oder nicht wollen. Wir sprechen hier über Evolutionsprozesse, die einen objektiven Gehalt haben. Ob die Kultur die entscheidenden Anpassungsprozesse nachvollziehen wird oder ob wir in eine Katastrophe schlittern, ist nicht voraussehbar. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass die Menschheit anpassungsfähig und zäh ist: Die ägyptische Kultur ist mehrmals in ihrer Geschichte von einer Bevölkerungszahl von zehn Millionen auf 500000 zurückgegangen - und wieder zurück. Stellen Sie sich das einmal für die Schweiz vor! Wir können zwar Negativtrends wie den Rückfall in den Nationalismus formulieren, aber im Prinzip ist Evolution ein fröhlicher Prozess. Sie sind ein Optimist… Ich bin kein Optimist im romantischen Sinne. Ich weiss, dass es Katastrophen geben wird. Aber ich bin Konstruktivist. Es macht nur Sinn, die konstruktiven Möglichkeiten auszuloten, um dann auch für sie einzustehen. - Zehn Jahre meines Lebens war ich Pessimist. Später merkte ich, wie eitel diese Haltung ist. Verantwortlich mit Zukunft umzugehen heisst, Gefahren zu erkennen und das Mögliche dazu beizutragen, dass sie nicht eintreten. In unserem Teil der Welt ist alles immer besser geworden. Wir haben eine entwickelte, demokratische Wohlstandsgesellschaft, die uns viel mehr Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung gibt, als unsere Vorfahren sie je hatten. Interview bas
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